»Die Kampfansagen starten im Kindergarten«
DIE ZEIT: Obwohl Frieden für alle das Beste wäre, scheint er im Nahen Osten unmöglich zu erreichen. Neben den politischen Verwerfungen: Gibt es dafür auch psychologische Erklärungen?
Daniel Bar-Tal: Diese Frage hat mich mein ganzes Forscherleben umgetrieben. Heute bin ich überzeugt, dass sich in Israel und Palästina ein spezielles Ethos entwickelt hat, das den Konflikt unlösbar werden lässt.
ZEIT: Was meinen Sie damit?
Bar-Tal: Im Fall der israelischen und der palästinensischen Gesellschaft sind kollektives Gedächtnis, Emotionen und Psyche allesamt auf den Konflikt ausgerichtet. Ich spreche deshalb auch von einem »Konflikt-Ethos«, das die Handlungen bestimmt. Jede Gesellschaft entwickelt dafür Erzählungen, die die eigenen Ziele rechtfertigen und den Feind für Ausbruch und Andauern des Konflikts verantwortlich machen. Sich selbst sehen beide Seiten als Opfer und moralisch im Recht. Die Gesellschaften spiegeln sich.
ZEIT: Von welchen Erzählungen sprechen Sie?
Bar-Tal: Die Israelis neigen dazu, die Angriffe gegen sie als eine Aktualisierung der historischen Verfolgung der Juden zu empfinden. Auf palästinensischer Seite wird dem Gedenken an die Nakba von 1948 große Bedeutung beigemessen. Was heute in Gaza und im Westjordanland geschieht, ist demnach nur die letzte Volte dieser Urkatastrophe aus Vertreibung und Besetzung.
ZEIT: Wie kommt es zu diesem Muster?
Bar-Tal: Das Konflikt-Ethos entsteht, wenn die eigene Sicherheit und Existenz als bedroht empfunden wird und man glaubt, sich zur Wehr setzen zu müssen. Einer seiner Grundbausteine ist eine patriotische Opferbereitschaft: Man gibt sein Leben und nimmt das seines Feindes. Ein anderer Baustein ist, die Menschlichkeit der Gegenseite zu leugnen und sich selbst zu glorifizieren. Viele Israelis glauben tatsächlich, ihre Armee sei die moralischste der Welt und die Palästinenser seien allesamt Terroristen und islamistische Fundamentalisten. Für Palästinenser wiederum sind Israelis brutale Kolonialisten, sie erklären ihren Terror zum Widerstand. Das Paradox: Dieses Ethos hilft dabei, mit dem Konflikt und seinem Leid zu leben, und trägt zugleich zu seinem Fortbestehen bei.
ZEIT: Und die jeweiligen Gesellschaften sind von diesem Muster komplett bestimmt?
Bar-Tal: Man kann ihm nicht entkommen. Ob in der Literatur oder in Politiker-Reden, im Wehrdienst, in den Massenmedien, in der Kunst oder Schulbüchern. Im Kindergarten meiner viereinhalbjährigen Enkelin hängt über dem Eingang eine Karte von einem Israel, zu dem das Westjordanland ganz selbstverständlich dazugehört: Großisrael. Die Kampfansagen starten im Kindergarten!
ZEIT: Lässt sich das auch empirisch nachweisen?
Bar-Tal: Ja. Viele Studien zeigen: Schon Vorschulkinder verinnerlichen den Konflikt, sie haben eine Vorstellung von »uns« und »den anderen«. Für eine qualitative Studie haben wir mit einem großen Team in 19 israelischen Kindergärten vor den Feiertagen protokolliert, wie die Erzieherinnen den kleinen Kindern die Feste erklärten. Das Ergebnis: Bei jedem Fest zeigten sie die Juden als verfolgt – und priesen, als Reaktion darauf, den Heroismus der Soldaten und die Wehrhaftigkeit der Gesellschaft.
ZEIT: Wie genau fand das statt?
Bar-Tal: Fangen wir mit dem Chanukka-Fest an. Da erzählten die Erzieher den Kleinen: Die Griechen wollten uns zerstören, und wir mussten rebellieren. Danach Purim: Der persische König wollte alle Juden töten. Dann Pessach: Der Pharao hat die Juden versklavt und wollte ihre männlichen Erstgeborenen töten. Der Holocaust-Tag: Die Deutschen wollten alle Juden umbringen. Schließlich der Gedenktag zur Unabhängigkeit: Als wir einen Staat gründeten, wollten uns die arabischen Staaten zerstören. Aber: Wir haben unsere Armee, wir haben unsere Helden. Darum sind wir jetzt hier. Das bekommen die Kinder eingebläut.
ZEIT: Da steckt doch viel Wahres drin.
Bar-Tal: Natürlich, aber abgesehen vom Holocaust ist auch viel Mythos dabei. Wir erinnern sehr selektiv. Was wir »Unabhängigkeit« nennen, das nennen die Palästinenser »Katastrophe«, also Nakba: Mehrere Tausend Palästinenser wurden 1948 getötet, 750.000 vertrieben, rund 500 Dörfer plattgemacht. Es war eine Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft. Die aber begreifen wir eben nicht als Teil unseres historischen Gedächtnisses. Denn das würde unser Konflikt-Ethos gefährden.
ZEIT: Warum?
Bar-Tal: Weil wir als israelische Juden damit die Palästinenser als verletzliche Menschen anerkennen würden. Ich habe mich als Psychologe zeitlebens gefragt: Wie können Menschen einander umbringen, ohne sich zu kennen? Ohne daran zu denken, dass der andere eine Mutter hat oder Kinder? Das geht nur, indem man ihm seine Menschlichkeit abspricht und in ihm nichts als eine Bedrohung sieht.
ZEIT: Der 7. Oktober hat gezeigt, dass diese Bedrohung real ist.
Bar-Tal: Ja, es gibt verfeindete Gruppen, die sich bekriegen. Ja, die Palästinenser glauben, dass die Israelis Kolonialisten sind, gegen die man sich gewaltsam auflehnen muss, und die Israelis glauben, die Palästinenser seien bloß Terroristen und Nazis. Aber dieses Bild ist eine Kombination aus realen und psychologischen Faktoren. Die Vorstellung, der andere sei der Feind, wirkt daran mit, ihn als realen Feind zu konstruieren. Anders gesagt: Konflikte beginnen mit Ideen. Sie werden durch Ideen verfestigt. Und sie können auch beendet werden, indem neue Ideen an den Platz der alten treten.
ZEIT: Wie kommt man im Krieg auf neue Ideen?
Bar-Tal: Wir waren in der Geschichte schon einmal an einem solchen Punkt, das Konflikt-Ethos war nicht immer stabil. Es entwickelte sich bereits vor der Gründung Israels und erreichte in den Fünfziger- und Sechzigerjahren einen Gipfel. Damals befand sich Israel mit den arabischen Nachbarstaaten Syrien, Jordanien, Libanon und Ägypten im Krieg. Die ganze israelische Gesellschaft wurde davon erfasst. 1977 ereignete sich dann ein Wunder.
ZEIT: Ein Wunder?
Bar-Tal: So würde ich das tatsächlich nennen! Im März jenes Jahres wurde auf dem israelischen Karneval noch eine Puppe des ägyptischen Präsidenten Anwar al-Sadat in Gestapo-Uniform durch die Straßen getragen. Im November wurde derselbe Sadat am Flughafen Tel Aviv mit rotem Teppich begrüßt.
ZEIT: Wie kam es dazu?
Bar-Tal: Sadat hatte, nach Jahren des Krieges gegen Israel, Friedensbereitschaft signalisiert. Damals regierte die rechte Likud-Partei mit Menachem Begin als Ministerpräsident. Und sowohl Begin wie auch die linke Opposition ließen sich auf den Friedensprozess ein. Israel, das unter David Ben Gurion in den Fünfziger- und Sechzigerjahren ein autoritärer Staat war, trat in eine Phase der Demokratisierung ein, sie reichte bis in die Neunzigerjahre: Frieden mit der PLO. Gegenseitige Anerkennung. Arafat und Rabin schütteln Hände in Washington.
ZEIT: Sie waren schon damals ein anerkannter Konfliktforscher. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Bar-Tal: Ich wurde vom Bildungsminister gebeten, eine Friedensinitiative für die Kindergärten und Schulen zu entwickeln. Ich vertiefte mich also in die Frage, wie eine Transformation von einer Konflikt- zu einer Friedensgesellschaft aussehen könnte. Da ermordete im Februar 1994 ein extremistischer israelischer Siedler in einer Moschee in Hebron 29 Menschen. Es folgte eine Reihe von Selbstmordattentaten der Hamas. Und als dann 1996, ein halbes Jahr nach dem Mord an Izchak Rabin durch einen jüdischen Extremisten, der heutige Premierminister Benjamin Netanjahu gewählt wurde, war der Friedensprozess faktisch beendet. Die Art, wie über Palästinenser geredet wurde, änderte sich fundamental. Heute wünschen sich viel weniger Bürger Frieden als damals.
ZEIT: Was bedeutet das für die psychologischen Grundmuster der israelischen Gesellschaft?
Bar-Tal: Psychologische Muster, etwa Feindbilder, prägen die Vorstellungen von Realität wie Affekte. In unseren Studien konnten wir zeigen, dass Angst, Wut und Hass vorherrschende Emotionen in der israelischen Bevölkerung sind. Seit dem 7. Oktober ist dieses Land mehr denn je von Unsicherheit geprägt. In diesen Zeiten der Not wird das Konflikt-Ethos bei jüdischen Israelis besonders aktiviert, was die Abwertung des Feindes erleichtert. Ähnliches kann man an anderen Konflikten studieren. Wenn die Hutu in Ruanda die Tutsi in den Massenmedien andauernd als Kakerlaken bezeichnen, werden Ekel, Wut, Hass angefacht. So wird es einfacher, sie zu töten, denn das tut man mit Kakerlaken. Auf Israel übertragen: Wenn man »Palästinenser« und »Terroristen« synonym verwendet, erleichtert auch dies das Töten. Wer Terroristen tötet, tut etwas Gutes.
ZEIT: Blieb Israel denn eine Wahl? Die Hamas hat Juden entführt und ermordet, man könnte auch sagen: Israel den Krieg erklärt.
Bar-Tal: Richtig, der Krieg begann mit dem mörderischen Akt der Hamas. Aber seitdem wurden über 40.000 Palästinenser getötet, Gaza wurde dem Erdboden gleichgemacht. Das steht in keinem Verhältnis. Etwa 30 Prozent der Israelis vergleichen den 7. Oktober mit dem Holocaust. Das ist gefährlicher Unsinn. »Alle Palästinenser sind verantwortlich«, »Die Hamas ist wie die Nazis« – diese Sichtweise bestimmt hier die Debatte. Das Konflikt-Ethos ist heute so stark wie vielleicht noch nie.
ZEIT: Hunderttausende Israelis gehen derzeit für Frieden auf die Straße. Was ist mit denen?
Bar-Tal: Die meisten gehen für die über 100 Geiseln, die noch immer in den Händen der Hamas sind, auf die Straße – im Austausch gegen ein Ende des Krieges. Das ist etwas völlig anderes als ein Frieden mit den Palästinensern. Im Juli hat eine große Mehrheit im Parlament, inklusive der Opposition, gegen einen palästinensischen Staat im Westjordanland gestimmt. Wir sprechen in Israel schon lange nicht mehr ernsthaft über Frieden.
ZEIT: Der Gazakrieg ist sehr dynamisch. Zunächst schockten die Gräueltaten der Hamas, mittlerweile werden Israel Kriegsverbrechen vorgeworfen. Trotzdem scheint es schwierig, die eigene Position zu verändern oder zu hinterfragen. Für oder gegen Israel – und wenig dazwischen. Wieso ist das so?
Bar-Tal: Auch das ist psychologisch bedingt. Die soziopsychologische Infrastruktur von Konfliktgesellschaften, über die wir gesprochen haben, beeinflusst stark, wie wir Informationen verarbeiten. Eine Information, die unsere Position bestätigt, wird viel leichter akzeptiert als eine, die unsere Sichtweise infrage stellt. Viele Informationen dringen deshalb gar nicht zu uns durch. Und wenn doch – jetzt etwa die Folter von Gefangenen –, hilft das Konflikt-Ethos einem, selbst die unmoralischsten Handlungen zu legitimieren. Denn das eigene Ziel ist gerechtfertigt. Und der Feind hat es verdient.
ZEIT: Im vergangenen Jahr erschien ein Buch von Ihnen, an dem Sie viele Jahre gearbeitet haben: Unbekümmert in den Abgrund. Beim Lesen kann man den Eindruck gewinnen, dass Sie so etwas wie den 7. Oktober haben kommen sehen.
Bar-Tal: Niemand hat den 7. Oktober kommen sehen. Aber ich habe damit gerechnet, dass es wieder zu Gewalt kommt. Wie viele Völker haben sich besetzen lassen, ohne eines Tages zu rebellieren? Keines. Schauen Sie auf die Geschichte: Polen, Ungarn, Irland, Tschetschenien und so weiter. Menschen akzeptieren es nicht auf Dauer, von anderen beherrscht zu werden, das macht die Psyche nicht mit. Sie wollen frei sein. Es gibt heute nur zwei Staaten auf der Welt, in denen die Menschen in besetzten Gebieten keine Bürgerrechte haben: in der von Marokko annektierten Westsahara und in den von Israel kontrollierten Palästinensischen Gebieten.
ZEIT: Stimmen Sie der oft geäußerten Diagnose zu, dass der Gazakrieg es der Hamas und anderen Islamisten ermöglichen wird, Generationen von Palästinensern für ihre Sache zu mobilisieren?
Bar-Tal: Es kann gar nicht anders kommen. Ein Student von mir hat das Konflikt-Ethos der Palästinenser erforscht. In den Neunzigerjahren war es noch nicht sehr stark, damals war eine Versöhnung tatsächlich möglich. Aber diese Chance wirkt für immer verloren. Die junge Generation wird mit Hass und Wut aufwachsen. Es gilt generell: Je mehr die Gewalt eskaliert, desto rechter werden Gesellschaften. In Israel bekommen dann die Siedler Zulauf, die Palästinenser wenden sich der Hamas zu.
ZEIT: Sie klingen desillusioniert.
Bar-Tal: Ich habe einen palästinensischen Freund in Bethlehem – oder eher, ich hatte einen. Wir haben einander besucht, sind zusammen in den Urlaub gefahren, meine Kinder kennen seine. Wir waren wie eine Familie. Vor Kurzem schrieb er mir: »Danny, du musst mir vergeben, aber wir können nicht mehr befreundet sein. Ich werde dir nicht mehr schreiben.« Es tut weh, wir kennen uns seit 30 Jahren. Aber ich verstehe ihn. Für ihn bin ich der Feind.
ZEIT: Was muss geschehen, um Gesellschaften für den Frieden zu gewinnen?
Bar-Tal: Drei Faktoren müssen zusammenwirken. Erstens: Die Gesellschaften ändern sich, weil die Kosten des Konflikts auf beiden Seiten einfach zu hoch sind, mit den vielen Toten und den Milliarden Dollar, die in Aufrüstung statt ins Gemeinwohl fließen. Das kann passieren, aber es braucht viel Zeit. Zweitens, eine Persönlichkeit tritt auf, die alles ändert, denken Sie an Frederik Willem de Klerk in Südafrika, der Nelson Mandela aus dem Gefängnis holte und mit ihm verhandelte. Leider sehe ich derzeit niemanden. Drittens: Der Druck von außen zwingt die Beteiligten zum Umdenken.
ZEIT: Wie schätzen Sie die Chancen für solch einen Wandel ein?
Bar-Tal: Ich bin sehr pessimistisch. Aber das war ich auch als junger Mann nach dem Jom-Kippur-Krieg 1973 mit Ägypten. Und dann kam wenige Jahre später der Frieden. Vielleicht geschieht wieder ein Wunder.
Das Gespräch führten Anant Agarwala und Maximilian Probst
Siehe auch Entdecken: »Ein Jahr der Trauer«,S. 69