Flagge zeigen
Mein Name ist Cem Özdemir, Deutschland ist meine Heimat, und in Europa fühle ich mich zu Hause. Auch wenn hin und wieder Menschen denken, ich sei eingewandert – nein, ich bin es nicht. Am 21. Dezember 1965 wurde ich in Bad Urach, inmitten der Schwäbischen Alb geboren. Von Geburt an und bis heute bin ich Uracher und Schwabe. Seit 1994 betreibe ich – ein ausgebildeter Erzieher und studierter Sozialpädagoge – Politik als Beruf, weil ich die Welt verändern will. Ich verstehe Parlamente als Orte des fairen Wettstreits um die besten Ideen für unsere Gesellschaft und für die Zukunft unserer Kinder.
Während mein Büro im Deutschen Bundestag bislang von einem Wimpel des VfB Stuttgart, einer Stuttgart-Tischfahne und weiteren Erinnerungen an meine schwäbische Heimat geschmückt war, haben dort vor einem Monat zwei weitere Fahnen einen prominenten Platz gefunden. Neben den zwölf golden funkelnden Sternen auf dem blauen Grund der Europäischen Union steht dort auch die schwarz-rot-goldene Flagge der Bundesrepublik Deutschland.
Schwarz, Rot und Gold sind die Farben der Demokratie, der Freiheit und unseres Rechtsstaates. Sie erinnern mich an das Hambacher Fest 1832, als 30.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht nur die nationale Einheit, sondern auch ein republikanisches Europa, Presse-, Meinungs-, Versammlungsfreiheit und die Gleichberechtigung der Geschlechter forderten. Die Farben stehen für die Geburtsstunde der parlamentarischen Demokratie in Deutschland, als im Mai 1848 Tausende durch die schwarz-rot-golden geschmückten Straßen Frankfurts zogen und in der Paulskirche die erste demokratische Verfassung für Deutschland verabschiedet wurde. Sie erinnern an den Jubeltag des 9. November 1989, als die Mauer fiel und die Freiheit siegte. Und ja, Schwarz-Rot-Gold steht für mich auch für die herrliche Nacht des 13. Juli 2014, als Deutschland mit der bunten Mannschaft um Jérôme Boateng, Manuel Neuer, Sami Khedira und Miroslav Klose nach 1954, 1974 und 1990 zum vierten Mal Fußballweltmeister wurde.
Für mich ist unsere Fahne ein Symbol für das moderne, das offene Deutschland – das beste, das wir kennen. Schwarz, Rot und Gold sind ein Zeichen für den demokratischen Rechtsstaat, der mit seinem Grundgesetz Einigkeit, Recht und Freiheit für alle schützt, der gesellschaftliche Teilhabe ebenso garantiert wie die Möglichkeit zur Selbstverwirklichung einer und eines jeden. Es sind Grundwerte wie Meinungs- und Pressefreiheit, die Gleichstellung von Mann und Frau, das Recht auf sexuelle Identität und Religionsfreiheit, die in den ersten Artikeln niedergeschrieben sind. Die Fahne steht für die liberalen Werte eines Landes, das seine Geschichte niemals vergessen wird. So stolz wir auf die Entwicklung von Freiheit und Demokratie und auf unser Grundgesetz sind, so wichtig ist es, immer wieder an die dunkelsten Momente unseres Landes zu erinnern. Vor dem Abgrund der Schoah tragen wir die Verantwortung dafür, dass ein so unbegreifliches Verbrechen niemals wieder geschieht.
Es ist unsere gemeinsame Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen, weshalb wir gerade heute – vielleicht mehr denn je – die Farben unserer Fahne zeigen sollten. Es ist kein Zufall, dass die Weimarer Republik 1918 nach dem Ende des Ersten Weltkrieges mit Schwarz-Rot-Gold eine Fahne wählte, auf die es die rechten Gegner abgesehen hatten, die sie in den Dreck zogen und sich stattdessen der schwarz-weiß-roten Fahne Preußens zugehörig fühlten oder eben gleich das Hakenkreuz zeigten. Gerade deshalb, weil wir es heute auf den Straßen wie in den Parlamenten mit einer Bewegung zu tun haben, die nicht nur die Zukunft in den dunkelsten Ecken der Vergangenheit sucht, sondern nationalistischen Hass schürt, rechtsextremen Straftaten den Boden bereitet und mit rassistischen Parolen unser Land auch weit außerhalb des Bundestages spalten will, möchte ich dieser Bewegung die Symbole unseres freiheitlichen Staates nicht überlassen. Die Feinde unserer Demokratie haben kein Recht auf Schwarz-Rot-Gold. Sie missbrauchen die Zeichen unserer Republik, sie verachten unser Land und unsere offene, freie Gesellschaft.
Es ist nicht ihre Fahne. Schwarz-Rot-Gold steht für das Gegenteil dessen, was AfD, Pegida und Identitäre verfolgen. Die Farben unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung, dieses Symbol unserer Verfassung, will ich nicht den Rechtsradikalen überlassen, sondern ich möchte sie als stolzer Republikaner und wehrhafter Demokrat verteidigen. Mir gefällt, dass in unserem Land – ganz im Gegensatz zu dem Land, aus dem meine Eltern stammen, der Türkei – Fahnen und die Nationalhymne nicht permanent und überall den Alltag bestimmen. Niemand muss die Fahne seines Landes aufhängen, und niemand muss beim Erklingen des Deutschlandliedes mitsingen, auch nicht auf dem Rasen eines Fußballstadions. Aber umgekehrt sollte auch niemandem die Teilnahme an einer Demonstration verwehrt werden – zumal einer, die sich zu Solidarität statt Ausgrenzung bekennt –, weil er die Fahne unseres Landes zur Demo mitgebracht hat.
Es ist unsere Aufgabe, zu handeln und andere zu bestärken, selbiges zu tun, wo auch immer die Würde von Menschen verletzt wird. Wir dürfen es nicht zulassen, dass Rechtsextreme ausgrenzen oder dass Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Herkunft unter Generalverdacht gestellt werden. Ebenso müssen wir unseren Kampf gegen den Antisemitismus intensivieren und gemeinsam noch entschlossener gegen den Hass vorgehen – dafür stehen Schwarz, Rot, Gold für mich.
Mancher schaut bekümmert auf das Jahr 2019. Werden sich Fremdenhass und Intoleranz weiter in unsere Gesellschaft hineinfressen? Können wir die Populisten bei den anstehenden Wahlen endlich ausbremsen? Sind wir in der Lage, die drängenden Probleme zu meistern und in einem zivilen Ton, aber dennoch hart in der Sache, darüber zu streiten, was der beste Weg für unser Land ist? Schwarz-Rot-Gold sollten wir dabei als Ermunterung verstehen für unseren entschlossenen Kampf um den Zusammenhalt in einer offenen und freien Gesellschaft im Herzen Europas.