REVOLUTION

Nicht weniger als das braucht es, damit unsere Demokratie in all den Krisen überleben kann VON HEDWIG RICHTER UND BERND ULRICH

Es liegt etwas in der Luft, etwas Bitteres, etwas Schwefliges: eine Konterrevolution gegen die westlichen Demokratien. Während Russland seit zwei Jahren angreift und bisher nicht gestoppt werden konnte, während die Hamas Israel attackiert, blättert Xi Jinping noch im chinesischen Kalender, um den besten Zeitpunkt für einen militärischen Anschluss Taiwans zu finden. Diese äußere Krise ist nicht nur geopolitisch, sie ist auch geomoralisch, im Konflikt mit Wladimir Putin folgt kaum noch jemand dem westlichen Aufruf zum Kampf um die Friedensordnung in Europa.

Noch beunruhigender als die äußere Bedrohung ist die innere. Fast überall werden die Rechtspopulisten stärker, ihr Ziel ist eine Konterrevolution gegen die liberale Demokratie. Sie soll ausgehöhlt werden, um einem populistisch ermittelten und entfesselten »Volkswillen« freie Bahn zu verschaffen: weniger Gewaltenteilung, Recht des Stärkeren, Aufgabe von Werten, nur noch hier, jetzt und ich. Das alles ist deswegen so verstörend, weil die äußere Bedrohung eigentlich zu mehr Zusammenhalt im Inneren führen müsste, doch das Gegenteil ist der Fall. Donald Trumps Einladung an Putin, mit Europa zu verfahren, wie es ihm beliebt, ist in dieser Hinsicht ebenso irre wie paradigmatisch.

Die demokratischen Kräfte in Westeuropa und Nordamerika nennen den Rechtspopulismus einen neuen Faschismus und haben sich vorgenommen, entschiedener denn je dagegen anzukämpfen. Wir haben drei Einwände gegen diesen Ansatz: 1. Der Kampf gegen den Faschismus (wenn man ihn denn so nennen will) kann nicht allein im Kampf gegen den Faschismus gewonnen werden. 2. Rein defensiv lässt sich die innere Bedrohung auf Dauer nicht abwehren. 3. Die Konterrevolution gegen die Demokratie kann nur durch eine Revolution der Demokratie besiegt werden. – Warum?

Die Nebenfolgen unseres Tuns kehren heim. Alle, unverzüglich. Das ist die neue Epoche

Unter den Ursachen für den Aufschwung des Rechtspopulismus ragt eine heraus: die Nebenfolgenkrise. Siebzig Jahre lang war es für die Privilegierten in den westlichen Demokratien möglich, alle wesentlichen Kosten und Kollateralschäden der eigenen Lebensweise abzuschieben in die Zukunft, die Meere, die Böden, die Atmosphäre und den Globalen Süden. Zugleich haben wir mit unserer globalisierten fossilen Produktion und Konsumption die äußeren Gegner der Demokratie stark gemacht: China, Saudi-Arabien, Russland. Nun ist das Spiel aus, die Nebenfolgen kehren heim. Wenn sie uns nicht noch weiter über den Kopf wachsen sollen, dann muss die Lebensweise sehr rasch nebenfolgenarm werden, nicht nur ökologisch, das ist der erste Teil der Revolution. Der zweite bestünde darin, dass wir für die Kollateralschäden vergangenen Handelns aufkommen müssen, was, wie jetzt am Konflikt mit Russland exemplarisch zu sehen ist, nicht ohne Opfer gehen wird.

Das gewaltige mentale Problem besteht bei diesem Epochenbruch darin, dass die Mehrheit in den westlichen Ländern das atemberaubende Privileg, nur für einen kleinen Teil der eigenen Kollateralwirkungen aufkommen zu müssen, keineswegs als Privileg erlebt hat. Stattdessen verstanden die Menschen die systemische Sorglosigkeit, ihre endemische Bequemlichkeit zunehmend als ein Grundrecht und begannen, die Nebenfolgenfreiheit mit der Freiheit an sich zu verwechseln. Deswegen erscheint ihnen jetzt der schrille Klang des eigenen materiellen und moralischen Echos als ein Angriff auf die Freiheit höchstselbst. Gekränkt in ihrem Freiheitsgefühl, rebellieren viele, eifrig sekundiert von Rechtspopulisten, gegen: die Klimawende, die Agrarwende, die Energiewende, die Verkehrswende, das Lieferkettengesetz, gegen die westliche Militärhilfe für die Ukraine, aber auch gegen das Impfen, denn auch da muss man für die Folgen des eigenen Tuns zugunsten der Allgemeinheit einstehen.

Auf diese epochale Echo-Krise der westlichen Gesellschaften reagieren die Rechtspopulisten mit einem hochattraktiven Angebot. Sie sagen den Menschen: Mit eurer Normalität der vergangenen siebzig Jahre ist alles in Ordnung, es gibt all diese Nebenfolgen womöglich gar nicht, es sind die linken, globalisierten Eliten, die euch das einreden und euch erziehen wollen, und wenn die weg sind, ist alles wieder in Ordnung. Diese Antwort ist sachlich so falsch, wie sie emotional adäquat ist, sie bietet Wut, Empörung, Normalität, Heimat im Gestern und einen Sündenbock.

Wie aber reagieren die demokratischen Kräfte, also die liberalen, globalisierten Eliten auf die neue Epoche? Sie sagen, dass es da ein paar ernsthafte Störungen der gewohnten Lebensweise gibt, die sie jedoch mit einer technischen Transformation sowie einigen Sonderhaushalten in den Griff bekommen können. Diese Antwort hat einige Nachteile. Zunächst mal ist sie falsch, weil es mit einer technischen Transformation allein nicht getan sein wird, was beim Klima umstritten sein mag, beim Artensterben und bei den neuen sicherheitspolitischen Herausforderungen aber evident ist. Der zweite Nachteil folgt auf dem Fuße: Die demokratischen Eliten können nicht liefern, nur selten erfüllen sie ihre eigenen Versprechen. Dritter Nachteil: Die Antwort ist technokratisch, sie ist kühl. Die einzige Emotion, die den demokratischen Eliten bleibt, ist der Antifaschismus. Ob das trägt?

Wir glauben, dass der Kampf gegen den Rechtspopulismus in dieser Aufstellung nicht zu gewinnen ist, sondern nur wenn die demokratischen Politiker beginnen, auf ganz andere Weise mit dem Epochenbruch umzugehen und mit den noch-demokratischen Mehrheiten zu sprechen; nur wenn sie mit der Wahrheit ringen anstatt mit dem Rücken zu ihr; wenn sie mit den Menschen kämpfen und nicht an ihrer Stelle. Dazu würde gehören, den Faktor Zeit neu zu denken. Bislang konnten viele Entscheidungen so lange verschleppt werden, bis sie ihre Sprengkraft verloren. Im Zeitalter der rasch heimkehrenden Nebenfolgen geht das nicht mehr, sei es bei unterlassenen Waffenlieferungen, sei es bei der verschleppten Klimawende. Immer öfter herrscht das Prinzip: verschieben ist verschärfen. Die Politik hat die Macht über die Veränderungsgeschwindigkeit verloren.

Dabei wird das neue Tempo Menschen abverlangt, die sieben Jahrzehnte lang in rasender Ruhe verbracht haben, die im Auge des Orkans wohnten, den sie selbst antrieben. Tatsächlich war das, was in Westeuropa und in den USA sieben Jahrzehnte lang herrschte, keineswegs die Demokratie als solche, sondern nur eine bestimmte Phase in der langen und vielfältigen Geschichte der Demokratie, womöglich die Hochphase, vielleicht ein bisschen aber auch die Dekadenzphase.

Selbstverständlich wäre es gewagt, wenn die Politik nun plötzlich begänne, über den Epochenbruch offen zu sprechen, es wird sich für die Menschen anfühlen wie eine Revolution, wenngleich, und das ist daran emotional so attraktiv: Es ist eine Revolution – in der Demokratie und für die Demokratie. Nicht ohne Risiko wäre es auch, wenn die Politik ihren Paternalismus aufgäbe, wenn sie der besser gestellten Mehrheit sagte: Wir können keine Politik mehr machen für euch ohne euch. Vielleicht drehen dann tatsächlich alle vollends durch. Was man jedoch gewinnen könnte: Erwachsensein, Augenhöhe – und Selbstwirksamkeit. Denn die Mitte ist resignativ geworden, Vergeblichkeit dringt vor in alle Ritzen, darin liegt vielleicht die größte Gefahr für die Demokratie.

Es wäre ein radikaler Rollenwechsel: Bislang werden die Bürger als Konsumenten angesprochen, die in aller Sofa-Ruhe prüfen, ob das E-Auto mit »nur« 400 Kilometer Reichweite womöglich doch zu unbequem sein könnte. Oder in der Sicherheitspolitik, ob denn die Verteidigung der Freiheit eine Störung der eigenen Tax-Life-Balance wert ist. In der neuen Welt würde der Staat den Bürgern die Chance zur demokratischen, ökologischen Teilhabe geben, ihnen bei dem helfen, was sie ohnehin tun müssen, um ihre Würde und ihre Demokratie zu bewahren: ihr Leben ändern.

Vielleicht hilft es, dass diese Revolution in weiten Teilen eine Renaissance wäre. Denn der Westen hat in der Phase seiner Übermacht und seiner Nebenfolgenfreiheit den Blick auf die eigene Geschichte verengt und demokratische Tugenden verlernt. Gerade die konservativen Parteien sollte dieser Teil der Revolution interessieren.

Der Ruf der Populisten nach mehr Demokratie baut auf diese Verengung. Mehr Plebiszite fordern, mehr Jetzt-bin-ich-mal-dran, mehr Propaganda, mehr direkte Volksbeteiligung. Bauern, die den Mist auskippen, haben das unschlagbare Argument. Das heißt auch: weniger Parlament, weniger Expertinnenwissen (Eliten!). Das tönt zurzeit so überzeugend, dass sich auch der Kanzler duckt. Keine Klimamaßnahme, so sein Credo, die man nicht prinzipiell mit einem Plebiszit absegnen könnte. Und, wenn man es recht sieht, gilt dieser Plebiszit-Vorbehalt auch für jede Waffenlieferung an die Ukraine.

Doch wer glaubt, Demokratie sei grundsätzlich ein Mehr an Mehrheit und ein Weniger an Volksbeschränkung, der kennt ihre Geschichte schlecht. Gerade in Krisenzeiten haben Demokratien auf Selbstverteidigung umgestellt, auf weniger direkt, auf mehr Disziplin. Tatsächlich hat Demokratie in keinem modernen Staat je ohne Beschränkungen funktioniert, wesentliche Teile der Verfassungen stehen nicht zur Abstimmung. Eine der größten Begrenzungen ist das Prinzip der Repräsentativität durch das Parlament, zu deren Vorteilen es gehört, dass die Gewählten nicht die Lüste und Launen der Wählenden umsetzen müssen, sondern verpflichtet sind, zum Wohl des Volkes auch zunächst Unangenehmes zu beschließen. Die Repräsentation macht die Demokratie in einer großartigen Volte zu einem Verfahren, mit dem die Bürger die Chance erhalten, zu ihrer Vernunft zu kommen, ohne selbst jeden Tag und jede Stunde vernünftig sein zu müssen.

In einer Demokratie liegt die Selbstdisziplinierung so sehr auf der Hand, dass das Winden und Winseln der heutigen Politik verblüffend ist. Wenn vom Volk die Macht ausgeht, wenn also alle herrschen: Ja, dann müssen sich diese alle selbstverständlich auch zusammenreißen können. Hätten sie es einst nicht getan, gäbe es die heutigen Demokratien überhaupt nicht. Jetzt müssen sie es wieder tun. Es ist extrem undemokratisch, Bürgerinnen und Bürger wie launische Tyrannen zu behandeln, denen die Regierenden jeden Wunsch von den Lippen ablesen und sei er noch so unvernünftig, mit denen sie lieber in den Untergang gehen, als ihnen zu sagen, wie die Dinge nun mal liegen. Doch der eine Minister rechnet vor, warum die Menschen immer mehr Straßen brauchen, der andere erklärt Steuersenkung zum kategorischen Imperativ, und so ziemlich alle bemühen sich um ein Porträt Politiker-an-Wurst: Schaut, niemand fordert irgendwas, essen Sie ruhig weiter, als gäbe es kein Morgen, als stürbe die Ostsee nicht und als würden die Fäkalien der Schweine die Artenvielfalt in den Bächen und Flüssen nicht immer weiter reduzieren.

Selbstregierung ist auch Selbstbeherrschung, ist Maß, ist Form, ist Staatstragen. Das, liebe Konservative, ist die Grundlage demokratischer Bürgerlichkeit. Gerade das Eigentum verpflichtet und berechtigt keineswegs zur Nebenfolgen- und Verantwortungslosigkeit. Bürgerlichkeit in Zeiten von Putin, Trump und Ökodesaster hieße heute, angemessen Steuern zu zahlen für die militärische Sicherheit; Flüge und Autos so weit wie möglich zu reduzieren, solange der Maschinenpark noch nicht elektrisch ist – auch, um nicht mit immer neuen Milliarden die fossilen Diktaturen zu finanzieren. Modernisierte Bürgerlichkeit heißt auch, die destruktive Seite des heutigen Fleischkonsums einzuräumen, nicht zuletzt weil die ökologische Zerstörung unsere Demokratie unterminiert.

Im Nachkriegsdeutschland kamen Mächtige gar auf die Idee, Reiche teils zu enteignen

Für diese Klarheit spielt die Wissenschaft eine entscheidende Rolle. Sie ersetzt natürlich nicht die Politik, aber ihr intensiver Einfluss ist unverzichtbar. Tatsächlich sind Demokratien auf Eliten angewiesen, sie sind für Zeitenwenden unverzichtbar. Wie schon einmal: Im zerstörten Europa der Nachkriegszeit schufen die Regierungen in Europa mithilfe von Experten mächtige Sozialstaaten, wie es sie bisher noch nicht gegeben hatte, sie forderten hohe Steuern, sie klotzten riesige Wohnblöcke und Infrastruktur in die Welt. In Finnland und der Bundesrepublik kamen die Mächtigen gar auf die Idee, Reiche teilweise zu enteignen, um Flüchtlingen und Vertriebenen ein gutes Leben zu ermöglichen, wie die konservative Adenauer-Regierung mit dem Lastenausgleichsgesetz von 1952. Wer halbwegs klar denken konnte, der wusste: Das Opfer ist es wert, das ist der Preis der Demokratie. Der Verteidigungsetat lag bei über vier Prozent. Woran diese Regierungen nicht litten, war ein Legitimationsverlust, weil sie die Notwendigkeit von Zumutungen verständlich machten. Vieles spricht dafür, dass unsere Demokratie heute so gefährdet ist wie noch nie zuvor, und es steht ein Lastenausgleich an, für Lasten mit einer ganz anderen Tragweite und Tiefe als damals.

Eine gewisse Renaissance der demokratischen Tugenden von Selbstregierung, Selbstbeherrschung, Disziplin, Solidarität würde unsere Republik in die Lage versetzen, die sich übertürmenden Krisen ehrlich zu analysieren und entschieden zu bekämpfen. Nicht länger wären wir auf Scheinlösungen angewiesen, es greift ja schon ein neuer Wunderglaube um sich, der uns vor den Nebenfolgen befreien soll: Kernfusion, künstliches Fleisch, ein Friedensvertrag mit Russland, Abschiebungen im großen Stil.

Abrakadabra.

Dabei liegt das eigentliche Wundermittel schon in unseren Händen: Es ist die Demokratie selbst. Allerdings nicht in ihrer Luxus-Variante, sondern in ihrer dritten Kampfphase, nach dem Kampf gegen den Feudalismus und den Totalitarismus steht nun der gegen ihre eigene destruktive Seite an, sozusagen gegen den Kollateralismus.

Die Demokratie muss liefern, sagt der Konsument. Die Demokratie ist schon die Lieferung, sagt die Demokratie.

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Hedwig Richter und Bernd Ulrich: Demokratie und Revolution. Wege aus der selbstverschuldeten ökologischen Unmündigkeit, Kiepenheuer & Witsch, erscheint in diesen Tagen

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